Passfoto

Immer am letzten Sonntag des Monats setze ich mich in den Passfotoautomaten an der Giesingstrasse. Es ist ein altes ungepflegtes Ding, das nur schmierige schwarz-weiss Bildchen zu Stande bringt und den Namen „Fotoautomat“ eigentlich gar nicht verdient. Man müsste es „Kupferstichimitator“ oder „Röntgenkabinett“ nennen. Man könnte es auch einfach als „stilles Örtchen“ bezeichnen, wenn man den beissenden Geruch von Urin berücksichtigt, der einem in launiger Penetranz entgegenschlägt.

Über diesen Ort lässt sich wirklich und wahrhaftig nichts Gutes sagen. Im Prinzip gehört dieser Ort einfach verboten. Und doch fahre ich alle vier Wochen gut eine halbe Stunde mit zwei verschiedenen Bussen um in die Giesingstrasse zu gelangen und mich dort in diesem verdammten Ding fotografieren zu lassen.

Jedes Mal nähere ich mich dem Automaten langsam um mich zu vergewissern, dass er leer ist. Obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass ihn ausser mir und einigen obdachlosen Pennern überhaupt noch jemand betritt. Wenn ich ihn dann, wie eigentlich immer, verlassen vorfinde, schlüpfe ich schnell hinein und ziehe den lächerlich kurzen Vorhang zu. Mir ist klar, dass mein ganzer Körper bis zu den Ellbogen noch für jeden Passanten zu sehen ist, doch die scheinbare Privatsphäre hinter dem Vorhang suggeriert mir Sicherheit. Was auch immer die Leute draussen über meinen kopflosen Körper denken mögen, kann mir hier drin egal sein.

Wie immer schraube ich den Sessel ganz nach oben und platziere mich so darauf, dass ich mein Gesicht im schmutzigen Bildschirm gegenüber wiederfinde. Ich grabe in meiner rechten Hosentasche nach dem Einfränkler, den ich noch bevor ich in den ersten Bus gestiegen war, dort deponiert hatte. Dann schiebe ich ihn in den Schlitz unter dem Bildschirm und hoffe inständig, dass die alte Klapperkiste überhaupt noch funktioniert.

Wenn sie dann rasselnd und keuchend zum Leben erwacht, stellt sich bei mir ein Gefühl äusserster Befriedigung ein. Ausdruckslos blicke ich in die Kamera und warte auf den ersten von vier grellen Blitzen. Manchmal schneide ich auch Grimassen oder setze alberne Hüte auf, doch heute ist mir nicht danach.

Nachdem sich meine Augen vom Leuchten des vierten Blitzes erholt haben, bleibe ich noch einige Minuten in der stinkigen Kabine hocken. Ich weiss genau wie lange es dauert, bis die olle Blechbüchse meine Bilder ausspuckt. Dann erhebe ich mich langsam, ziehe den Vorhang einen Spalt weit auf und spähe hinaus. Sollte wider Erwarten eine Schlange von Leuten vor meinem Fotoautomaten stehen und ungeduldig mit den Füssen scharren... Doch natürlich ist nie jemand da, der ganz dringend mal ein Foto von sich machen will. Also trete ich wieder auf die Gasse und lehne mich gegen meinen leblosen Freund. Dieser ist gerade ungeheuer beschäftigt damit, meine Bilder zu produzieren. Ich rede ihm gut zu und gebe ihm die Zeit, die er braucht. Und dann endlich ist es soweit.

Mit einem vertrauten Surren quetscht der schäbige Kasten eine Serie von vier Passfotos hervor, die ich mit spitzen Fingern aus einer Öffnung ziehe. Völlig erschöpft gibt die Maschine dann ein letztes Grollen von sich und verstummt mit einer, wie ich finde, vorwurfsvollen Mine.

Gebannt blicke ich nun auf die Fotos in meiner Hand und erkenne eine Person, die viermal genau gleich aus dem verschmierten Rahmen herausstarrt. Die Qualität der Bilder reicht von mässig schlecht bis grottenschlecht. Das Letzte ist kaum mehr als Passbild zu erkennen, da dem Fabrikanten wohl mal wieder die Farbe auszugehen scheint; wenn man Schwarz überhaupt als Farbe bezeichnen kann.

Ich beschimpfte ihn und wedle mit meinen verkorksten Portraits durch die Gegend. Ach, ich sollte wirklich einen neuen Automaten suchen. Doch was nützt das Jammern? In vier Wochen werde ich doch wieder hier stehen und mich über genau dieselben Lappalien aufregen.

Also wettere ich noch den ganzen Weg zurück zur Bushaltestelle munter vor mich hin und plane in Gedanken schon das nächste Shooting.

Zuhause angekommen schmeiss ich Schuhe und Jacke in eine Ecke und eile mit meinen neu erworbenen Bildern in den Flur. Ich stelle mich hin und betrachte die Wand. Wo könnte ich die neuen Bilder hinhängen? Eigentlich eine simple Frage, das Problem ist nur, dass bereits drei Viertel dieser Wand belegt sind mit all den anderen Passfotos, die mein Freund so mühsam von mir angefertigt hat. Da hängen helle Fotos, dunkle Fotos, lustige Fotos, ernste Fotos, Fotos auf denen ich gähne oder grad zur Seite schaue, ja sogar Fotos, auf denen ich gar nicht drauf bin, weil ich mich im Augenblick des Blitzes gerade gebückt hatte um eine fallen gelassene Münze aufzuklauben.

Ich suche also das Ende dieser Pseudoarmee und füge dort meine neuste Errungenschaft hinzu, immer wissend, dass schon im nächsten Monat vier weitere Soldaten meiner Selbst an dieser Wand verewigt werden.