Drago

Er hiess Dragan Polko und war mein Erzfeind. Ich war 11, 12, 13, er auch, und wir lebten in der gleichen Siedlung. Ich fürchtete bei jedem Schritt vor die Haustür, das grässliche Grinsen hinter einer Mauer hervorblitzen zu sehen und einen neuen abscheulichen Titel verleiht zu bekommen. Es ist nicht so, dass es nicht noch andere Kindheitsfeinde gegeben hätte – einer davon bedrohte mich sogar mit einem Messer – aber Drago war der schlimmste. Er hatte kein Messer nötig.

Es war gute 20 Jahre später, als ich ihm wieder begegnete. Ich sah von meiner Zeitung auf und erblickte im Abteil schräg vor mir das Gesicht, das – genau wie der dazugehörige Name – auf ewig in mein Gedächtnis eingebrannt war. Dragan Polkos Gesicht. Es hatte sich kaum verändert. Mein 11-, 12-, 13-jähriges Ich erstarrte und hielt panisch nach einem Fluchtweg Ausschau. Wohin bloss, ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen? Er würde mich gleich bemerken und dann konnte es keinen Ausweg mehr geben…
Mein über 30-jähriges Ich gebot Einhalt. Jetzt galt es, Ruhe zu bewahren. Gewiss würde er mich bemerken und die gewohnte Fratze würde versuchen, die alten Wunden wieder aufzureissen, allein mit ihrem Grinsen, das nur er und ich verstehen würden. Aber diesmal würde ich dem Blick standhalten, ja, ich würde sogar die Initiative ergreifen! Ich würde ihn stellen, noch bevor er zum Angriff übergehen konnte…

Ich stand auf und ging auf ihn zu, so lässig wie es eben möglich war. Als ich auf seiner Höhe war, schaute ich zu ihm hinunter, zwang die Fratze zum Duell und sagte: „Hallo Drago!“.
Und dann geschah es. Dragos Blick traf meinen und augenblicklich veränderte sich sein Gesicht. Mir stockte der Atem, aber ich hielt seinen Blick entschlossen fest. Aber statt der Fratze erschien nun ein Lächeln, halb-freundlich, halb-verunsichert. „Ah… hallo!“, sagte das Gesicht ohne jegliche Aggression. Ich war baff. Wo waren die ganzen Gefühle geblieben, die widerwärtigen Beschimpfungen, die hasserfüllten Blicke? Dann traf es mich wie der Blitz – Dragan Polko erkannte mich nicht wieder! Ungeahnte Erleichterung erfasste mich. Ich war in dem Moment sicher, dass ich ihm meinen Namen hätte sagen können und er hätte nur mit den Schultern gezuckt. Ich hätte ihm sagen können, dass mich sein Schatten ein halbes Leben lang verfolgt hatte und er hätte mich verständnislos angeschaut. Nun kam die Wut. Die ganzen Jahre des grundsätzlichen Misstrauens gegenüber potenziellen Erzfeinden, das war alles völlig grundlos gewesen. Ich hatte mich vor einem Feind gefürchtet, der offensichtlich gar nicht MICH gemeint hatte. Er hatte niemals MICH gemeint…
Und dann fiel plötzlich alles von mir ab.

Ich löste meinen Blick von Dragos Gesicht und ging weiter. Bei der nächsten Station stieg ich aus. Übrig blieb nur betäubende Gleichgültigkeit.