Herr Meier und das Monster

Erstens war ich ziemlich spät dran. Ich wollte ja früher von zu Hause los, aber dann verkalkulierte ich mich, nahm beinahe das falsche Tram (weil mehr Bau- als Haltestelle) und wartete dann eine Viertelstunde vor Beginn immer noch zappelnd und vor mich hinmurmelnd auf das (diesmal richtige) Tram. Ich schaffte es dann doch rechtzeitig, da ich, kaum hatte das Tram mich ausgespuckt, einen Spurt hinlegte, quer über die Strasse, an anderen Leuten im Konzertbesucheroutfit vorbei.
Zweitens machten mich Menschenmengen (wobei schon mehr als zwei eine Menge bilden; eins, zwei, Menge, soweit die Mathematik) an sich schon nervös. Als Summe von erstens und zweitens ergab sich eine angespannte Grundstimmung, die mich blind fürs Rechts und Links ins Haus hineinfliehen und möglichst unbemerkt in die Konzerthalle schlüpfen liess. In solchen Momenten bin ich immer inkognito unterwegs. Ich bin dann nicht mehr ich, sondern irgendein Meier oder Müller, je nachdem, welcher mir zuerst in den Sinn kommt.

Herr Meier sass also auf Platz 526 in der 23. Reihe, Parkett hinten. Er war adrett und angemessen in einen teuren braunen Anzug gekleidet. Vorbeimüssenden der Reihe 23 machte er freundlich Platz. Nur eine zunehmende Anzahl Schweissperlen auf seiner Stirn trübten den Schein des Makellosen. Schliesslich zog Herr Meier, fast ohne sich dabei zu bewegen oder die Aufmerksamkeit seiner Reihengenossen auf sich zu lenken, das Jackett aus und legte es sich über die Knie. So weit, so gut.

Orchester und Chor woben einen Klangteppich in den Raum, der Reihe für Reihe überzog, dicht und unwiderstehlich, bis er Reihe 23 und den darin sitzenden Herrn Meier erreichte – gerade als dem Sopran ein himmlisch reines „Stabat mater dolorosa“ entfloss. Herr Meier dirigierte reglos mit zeitweise geschlossenen Augen, strich zwischendurch liebevoll über die Saiten seines imaginären Cellos, das bebend auf seinen Einsatz wartete. Beim „Vidit suum“ übernahm er stumm den Part der Solistin (aber mit etwas weniger Vibrato und präziserer Aussprache).

Als es geschah, waren exakt 34 Minuten vergangen und Herr Meier gerade dabei, den Chor beim „Fac ut portem Christi mortem“ zu unterstützen. Plötzlich registrierte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung und das letzte „mor-“ blieb ihm im Halse stecken.

Ich erstarrte, Würgreiz ergriff mich, meine Augen rissen sich von selber auf. Weg war Herr Meier, da war nur noch ich. Ich und es. Ich zwang mich, hinunterzuschauen. Da sass es, im Halbdunkel, auf meinem Jackett. Ich riss meine Hand aus der Gefahrenzone. Die Sopranistin versuchte zuerst schmeichelnd, dann flehend, meine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen, der Chor verlieh seinem Statement Nachdruck…
Doch ich war Aug in Auge mit meinem Feind. Kurz überlegte ich noch, welcher Feind grösser war, die Menge um mich herum oder dieser eine, besonders freche, der auf mir herumspazierte. Ja, tatsächlich hatte er sich in Bewegung gesetzt und lief jetzt auf den Jackettärmel zu… Das ging nicht! Ich entliess ein Ächzen des Ekels bei der Vorstellung, wie lange ich wohl schon unwissend fremdbewohnt worden war, ergriff das Jackett mit zwei Fingern und schleuderte es von mir. Weit kam es nicht, es rutschte an der Lehne des Stuhls vor mir herab und landete wieder vor meinen Füssen. Gefangen mit dem Feind inmitten einer Menge Reihen! Das Grauen stöhnte aus mir. Ich sprang auf und begann, auf dem Jackett herumzutrampeln, wobei ich die Füsse jeweils rasch wieder hob, um dem Feind möglichst wenig Angriffsfläche zu geben. Mein verzweifeltes „Stirb und schweig!“ wurde von einem mehrstimmigen „Paradisi gloriae“ abgelöst. Auch die Solistin mischte sich wieder ein.

Dann war es zu Ende. Amen. Ein letztes Aufbäumen des Orchesters.

Erschöpft und überrascht sass Herr Meier auf seinem Platz. Als kurz und intensiv hätte er die Erfahrung beschrieben, wobei er das Gefühl hatte, in der zweiten Hälfte etwas abgeschweift zu sein. Um in herum hatte sich etwas verändert, es fühlte sich an, als hätte sich die Energie um ihn herum verdichtet. Ohne nach links oder rechts zu schauen, floh er aus dem Saal und aus dem Haus.