Als ich mich in eine schwarze Wand verliebte

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Als ich mich in eine schwarze Wand verliebte? Es gibt ja schon bescheuerte Titel und das ist bestimmt einer davon. Ich mag keine Titel, die mit Als beginnen. Und ich mag zum Beispiel auch keine Oder-Titel wie Tims Traum – oder wie man Monster kitzeln kann. Noch schlimmer wäre natürlich Tims Traum- oder als er ein Monster kitzelte. Solche Bücher kann ich nicht lesen. Aus Prinzip nicht. Wenn sich der Autor oder die Autorin schon nicht sicher ist, worum es in dem Buch geht, wie kann ich ihm oder ihr dann zutrauen, mich zu überzeugen (zumindest davon, dass es wert ist, das Buch zu lesen)? Entweder liegt der Fokus auf Tims Traum oder eben auf der Anleitung fürs Monster-Kitzeln, aber man muss sich entscheiden. Man kann dann ja immer noch drumherumreden, aber ein Titel, der in eine bestimmte Richtung weist, macht mir einfach viel mehr Eindruck. Und doch fällt immer wieder irgendjemandem ein Oder-Titel ein. Als wüsste der- oder diejenige nicht, dass ihm/ihr genau dies zum tragischen Verhängnis werden kann. Ich muss allerdings betonen, dass ich das Buch Tims Traum – oder wie man Monster kitzeln kann – und das gilt auch für alle anderen Oder- Bücher – keineswegs abwerten will, schliesslich habe ich ausser dem Titel ja aus Prinzip kein Wort von dem Buch gelesen, höchstens eine Rezension, und die war ganz und gar positiv, es ist angeblich auch zweisprachig geschrieben und das macht den Oder-Titel quasi wieder wett. Glück im Unglück sozusagen. Ich kann das Buch also geradezu empfehlen, vorausgesetzt natürlich, man kann über den Oder-Titel hinwegsehen.
Jedenfalls habe ich meinen Titel Als ich mich in eine schwarze Wand verliebte gewählt, wie mancher Schreiberling zu Anfang eines Buches oder einer Idee halt einen Titel wählt, einen Arbeitstitel, den er oder sie dann beim Schreiben nach und nach oder auch ganz zum Schluss dem Inhalt anpasst. Doch der Titel beschäftigte mich so sehr, dass ich die Problematik in den Inhalt einfliessen liess – wie man ja bereits gesehen hat – und da ist es natürlich schwierig, den Titel nachträglich wieder zu ändern. Vielleicht ging es der Autorin von Tims Traum – oder wie man Monster kitzeln kann ja genauso. Da fiel ihr am Anfang dieser Oder-Titel ein und am Schluss konnte sie ihn nicht mehr ändern, weil – ja, warum weiss ich natürlich auch nicht (zumal ich ja den Inhalt wie gesagt nicht kenne).
Jedenfalls bleibt uns beiden zu hoffen, dass nicht jeder unsere Texte nur nach dem Äusseren beurteilt. Gerade bei einem Buch ist da ja neben dem Titel auch noch das Umschlagbild, das eine wichtige Rolle spielt (was der/die Lesende im Augenblick des Lesens besser beurteilen kann als der Verfasser/die Verfasserin, denn erstere(r) hält es in diesem Moment in Händen, während letztere(r) meist noch keine Ahnung hat, wie es aussehen wird, wenn er/sie die betreffenden Zeilen schreibt). Umschlagbilder beeinflussen uns ungemein, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Eines meiner Lieblingsbücher, bis heute, ist Vanished von Mary McGarry Morris. Ich liebte alles an dem Buch, inklusive Titel, wegweisend und doch unwegweisend zugleich. Das Bild auf dem Cover zeigte ein rotes Auto, das in eine einsame Wüstenlandschaft davonfährt. Oder so sieht es jedenfalls in meiner Erinnerung aus, denn leider habe ich dieses Buch nicht mehr, es hat dummer- und auf mir unbekannte Weise seinem Titel alle Ehre gemacht. Also bestellte ich es neu. Beim Abholen der grosse Schock: Da war kein rotes Auto mehr und auch keine Wüstenlandschaft, sondern ein sonderbares amerikanisches Südstaatenhaus prangte auf dem Umschlag. Am liebsten hätte ich das Buch gleich zurückgegeben, aber irgendwie wusste ich wohl nicht, wie ich das hätte erklären können. Aber ich liebte es nicht mehr, jedenfalls nicht so wie früher. Ich habe übrigens auch später kein Exemplar der alten Ausgabe mehr finden können. Das Buch ist und bleibt auf wundersame Weise vanished.
Vielleicht hätte gerade ein Buch mit dem Titel Als ich mich in eine schwarze Wand verliebte eine gute Chance, das Problem der umschlägigen Beeinflussung zu umgehen, indem es nämlich genau das zeigt: eine schwarze Wand. Aber das ist ja immer auch zum grossen Teil dem Verlag überlassen, der das Buch druckt. Und Verlags-Urteile sind bestimmt nicht immer autorenkonform, genauso wie gewisse Filmtitel in Fremdsprachen kaum im Sinne der Filmemacher wären, wenn die sich deren bewusst wären. Wenn besagte Titel wenigstens publikumsfreundlich oder sonst irgendwie verständlich wären, aber ich kann weder Im Land der Raketenwürmer (im Original Tremors) noch zum Beispiel Zwei Superpflaumen in der Unterwelt (im Original Wise Guys) auch nur den geringsten Reiz abgewinnen (wie Sie sich denken können, sage ich das, ohne besagte Filme gesehen zu haben). Aber nun zum eigentlichen Thema.

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Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in eine Wand verliebte. Zuvor hatte es mir schon eine andere Wand angetan, eine weisse diesmal, längliche weisse Backsteine, übermannshoch, davor ein paar Meter weisser Pflasterstein, eine Steintreppe, die von der Mitte her bis ganz hinaufführt zu einem zurückversetzten und hinter Büschen zu erahnenden Haus, ein schwarzes, leicht verschnörkeltes Geländer. Edel vollendet mit einer schwarzen Lampe und einem schwarzen Blechbriefkasten im Retro-Stil. Zehn Jahre lang war ich an dieser Wand vorbeigefahren und hatte sie nicht wahrgenommen. Nicht, dass ich sie nicht gesehen hätte, aber wie es so ist, manchmal nimmt man Dinge erst wahr, wenn man im Kopf Platz für sie hat. Mit Menschen ist es genauso, aber darum geht es jetzt hier nicht. Als ich die weisse Wand bemerkte, sie rechts aus dem Busfenster ganz flüchtig vorüberflitzen sah, verliebte ich mich in sie. In ihr an diesem Tag perfekt reines Weiss, in ihre stolze Erhabenheit, die Schlichtheit, die bei näherem Hinschauen gar keine Schlichtheit war, sondern fast schon eitle, sorgsam arrangierte Zauberhaftigkeit. Ihr schwer zugänglicher Standort direkt an der schmalen Fahrspur ohne Haltemöglichkeit unterstrich das Geheimnisvolle, auf das man nur einen Blick erhaschen und das man niemals ganz erfassen kann.
Ich habe erwähnt, dass man Platz haben muss für Dinge, damit man ihre Bedeutung erkennen kann. Wände erhielten bei mir Platz – und das ganz unbewusst – als ich zu fotografieren begann. Sie denken jetzt vielleicht erleichtert „Ach so, dann ist sie doch keine Besessene, sondern einfach eine Fotografin, die nach geeigneten Hintergründen Ausschau hält“. Das ist natürlich nicht falsch, aber es ist nur ein Aspekt. Der erste Impuls ist in diesen Fällen gänzlich unzweckgebunden und unzielgerichtet. Wie Liebe auf den ersten Blick halt.
Die weisse Wand blieb in meinen Gedanken haften und nun stellten sich auch Ideen ein, wie sich die Wand fotografisch verewigen liesse. Ich träumte von Tango-Tänzern in rot und schwarz, von einer Art Carmen-Szene, direkt einer traditionellen Operninszenierung entsprungen. Allerdings sind alle Umsetzungen dieser Vorstellungen bis heute nur Träume geblieben.

Die schwarze Wand war ganz anders, aber sie begegnete mir genauso unerwartet. Ich hatte mit einem Fotografen Bekanntschaft gemacht, der ein eigenes professionelles Studio besass. Wir vereinbarten, dass er mir das Studio jeweils für Fotoshootings vermieten würde. Der Raum war länglich, relativ klein und ohne Fenster und doch irgendwie gemütlich. An der einen kurzen Seite waren grosse weisse Papierrollen angebracht, die als Hintergrund dienten, die längere Wand zu meiner Linken war weiss, die rechte schwarz. Wie Sie nun sicher richtig vermuten, fühlte ich mich sofort zur schwarzen Wand hingezogen. Dabei war nichts Besonderes an ihr, ich schenkte ihr in diesem ersten Moment noch nicht einmal viel Beachtung. Aber ich wusste, dass sie mir gefiel. Daran vermochte auch die Bemerkung des Fotografen, dass sich die schwarze Wand weniger gut als Hintergrund eigne (wenn Sie sich wundern, warum das so sein soll, erkläre ich Ihnen das gerne einmal persönlich), nichts zu ändern. Das ist bei mir manchmal so; ich nehme Ratschläge wohl wahr, aber manchmal können sie in mir einfach nicht viel ausrichten. Es ist so, als gäbe es etwas in mir, das ein Eigenleben führt, fernab von meinem Verstand. Ein unheimlicher Gedanke eigentlich. Wie auch immer, ich liess die weissen Hintergründe links liegen und integrierte die schwarze Wand ganz selbstverständlich in alle meine Shootings. Und ich liebte die Bilder mit dieser Wand. Sie war mehr als Hintergrund für mich, sie hatte Struktur – kleine Erhebungen und Unebenheiten, die beim Spiel mit Licht und Schatten Spannung erzeugten - und fast schon eine eigene Persönlichkeit. Ich gab ihr Raum und Ausdruck in meinen Bildern. Die Wand führte nicht einfach eine Koexistenz mit dem Hauptmotiv im Bild, sondern sie verschmolz mit ihm oder rieb sich an ihm, je nach Laune. Ich wusste auch nicht immer genau, was bei diesen Zusammentreffen herauskommen würde. Man kann diese fehlende Voraussicht als unprofessionell betrachten, aber ich geniesse es, jedes Mal überrascht zu werden, mich den Umständen anzupassen, Zeugin eines Ereignisses zu werden, das sich für die meisten im Verborgenen abspielt.

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Ein Faible für Wände unterscheidet sich nicht so sehr von zärtlichen Gefühlen gegenüber Menschen, finde ich. Man kann auch in einem Gesicht versinken, die Augen genussvoll an einer perfekten Kopfform entlanggleiten lassen, jede Ader an einem langen Hals liebkosen, sich an warmen Augen festsaugen, bis es einem den Atem verschlägt. Natürlich geht es dabei nur um das visuelle Verliebtsein. Ich bin jemand, der in erster Linie optisch liebt. Vielleicht drücke ich mich deshalb gerne in Bildern aus. Und in geschriebenen Worten. Wahrscheinlich kann auch nur jemand, der optisch liebt, einen Titel wie Als ich mich in eine schwarze Wand verliebte wählen.
Wenn wir es schon von Verliebtheit haben: Ich weiss nicht, ob Verliebtheit hier der richtige Ausdruck ist. Vielleicht habe ich diesen Ausdruck auch gewählt, weil er den Titel interessant machen soll. Im Sinne von: Wenn er schon bescheuert ist – der Titel – so soll er wenigstens Hoffnung auf ein aufregendes Thema machen. Und Liebe, in welcher Gestalt auch immer, verfehlt nie ihre Wirkung. Sollte das doch nicht ziehen, könnte man immer noch auf den Tick Verrücktheit setzen, der in dem Titel steckt.
Möglicherweise hatte ich aber auch einfach Lust, mich einmal mit dem Thema Verliebtheit zu befassen und wollte das ein bisschen versteckt tun. So richtig offen über Gefühle reden, das ist nicht meine Stärke. Aber es scheint, als hätte sich jetzt der richtige Zeitpunkt ergeben (ich weiss nicht, ob ich Ihnen das schon erklärt habe, aber das, was in mir drin sein Eigenleben führt, führt gewissermassen auch meine Feder – oder meinen Tastenschlag -, mit anderen Worten: Niemand weiss, was hierbei herauskommen wird, nicht einmal ich). Wenn ich also Ihr Interesse mit dem Wörtchen verliebte gewonnen habe, so möchte ich – bzw. das „Ding“, Sie wissen schon - Sie nun auch nicht enttäuschen.
Wenn es visuelle Verliebtheit gibt, so muss es wohl auch auditive und taktile und olfaktorische und gustatorische Verliebtheit geben. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich all diese Arten von Verliebtheit schon empfunden habe. Da ist zum Beispiel diese Ehrfurcht vor der überirdischen Schönheit dieser einen Stelle in Korngolds Ich ging zu ihm, gesungen von Renée Fleming: … und dass sein armes Aug noch Liebe könne sehen, ehe dass es bräche…( Interessant, dass dem Text zufolge hier Liebe auch visuell wahrgenommen wird). Oder das berauschende Hochgefühl beim Höhepunkt von Schuberts Gruppe aus dem Tartarus in der Version von Anne Sophie von Otter. Auch gustatorische Verliebtheit ist für mich nicht schwierig nachzuvollziehen, man denke an fein abgeschmecktes Süsskartoffelpüree, einen Berg gerösteter Zwiebeln, Knoblauch mit Knoblauch, Käsetoast mit Zwiebeln und Champignons, ein saftiges und gut gewürztes Stück Lamm…
Olfaktorische Verliebtheit ist da schon schwieriger für mich. Was gut schmeckt, riecht meist auch gut. Und taktile Verliebtheit – tja, Berührung kann natürlich ganz besonders berauschend sein. Sei es auch nur eine leichte Berührung der Unterarmhaare beim vierhändigen Klavierspiel – Erotik pur.

Jedenfalls ist Verliebtheit ein ganz wichtiger Aspekt des Lebens. Man sollte ständig ein bisschen verliebt sein, das macht das Leben gleich viel schöner. Und es gibt so vieles, in das man sich ein bisschen verlieben kann. In der Schule war ich in die Hände meiner Englischlehrerin verliebt, feingliedrige, lange Finger mit roten Nägeln. Meine Augen folgten schwelgend jeder Bewegung wie zwei Tänzern, jederzeit elegant, manchmal statisch, dann wieder zielgerichtet einer Linie folgend. Ich habe dabei übrigens auch sehr gut Englisch gelernt.

Um zum Schluss in guter Schreiber-Manier doch noch einmal auf das Titelthema zurückzukommen: Die schwarze Wand ist längst Erinnerung, genauso die Hände meiner Englischlehrerin und so viele andere schöne Dinge, denen ich begegnet bin und die ich mir einverliebt habe. Aber ich bin sicher, dass mir noch viele weitere neue liebenswerte visuelle, auditive, taktile, gustatorische und vielleicht sogar ein paar olfaktorische Phänomene über den Weg laufen werden (so sie denn laufen können). Auch die Verrücktheit wird mir bestimmt nicht abhanden kommen und die Eingebung bescheuerter Titel wohl auch nicht. Und was dann geschieht, können Sie sich ja inzwischen vorstellen. Machen Sie sich also auf was gefasst.